An diesem schönen Spätsommertag treffe ich Llilian, die Protagonistin aus "Der Duft des Mondes" von Amélie Duval.
UzB: "Hallo Llilian, schön, dass du da bist. Stell dich doch den Lesern bitte kurz vor."
Llilian: "Hi! Also, ich bin Llilian, 23 Jahre jung und stolze Besitzerin der Hafenschenke „Zum Krähennest“ in Tönngracht. Mein leiblicher Vater ist angeblich so etwas wie ein Gott, aber ich kenne ihn nicht - und das ist auch gut so. Er hat meine Mutter noch in der Nacht meiner Zeugung sitzengelassen. Welch anständiger Mann tut so etwas? Jedenfalls liebe ich meine Arbeit … Hey, Anton! Mach nochmal zwei Portionen Wildschweingulasch fertig! … Also, wo war ich? Ach ja, meine Arbeit. Ich lerne dabei so viele unterschiedliche Menschen kennen, höre wilde Geschichten und erfahre so einiges über die menschliche Natur. Mal ehrlich, was gibt es Schöneres, als wenn die Welt zu einem kommt? Außer natürlich jemand weiß nicht, sich zu benehmen. Dann werfe ich ihn hochkant raus! Ansonsten gibt es nicht viel über mich zu erzählen, außer dass ich diese seltsamen Augen habe, die nach Lust und Laune die Farbe wechseln. Ein echtes Ärgernis! Damit die Leute mich nicht für sonderbar halten, trage ich eine getönte Brille."
UzB: "Wow, das waren jetzt ganz schön viele Informationen auf einmal 😅 Lass uns vorne beginnen. 23 und schon eine eigene Schenke?"
Llilian: "Wieso wundert dich das? Ich habe schon im Alter von elf Jahren in der Mühle meiner Mutter gearbeitet. Als sie vor drei Jahren starb, möge Yantu ihrer Seele gnädig sein, verkaufte ich die Mühle und kam nach Tönngracht, um ganz neu anzufangen. Meine Mutter und ich haben allein gelebt, dort hielt mich also nichts mehr. Mit dem Erlös habe ich mir die Schenke gekauft. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich habe dieses gedrungene Fachwerkhaus am Ende der Gasse gesehen und gewusst: Das ist es! Dort liegt mein Glück begraben."
UzB: "Nun ja, bei uns sind viele in so jungen Jahren noch nicht so reif. Das tut mir leid mit deiner Mutter. Aber du scheinst ja richtig in deiner Arbeit aufzugehen. Was gibt es über Tönngracht interessantes zu erzählen?"
Llilian: "Tönngracht ist eine Hafenstadt, die als Tor zum Nordmeer gilt und von Kanälen durchzogen ist. Die Sonne scheint hier nur selten, aber das stört mich nicht. Ich lebe gern in Tönngracht, auch wenn hier und da Gefahren lauern. Ich sage da nur der Schwarze Bootsmann oder die Gesichtslosen! Allein bei dem Gedanken läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Tönngracht besteht wie andere Städte auch aus zahlreichen Vierteln unterschiedlicher Ausprägung, je nach Glaubenslehre, Abstammung und Berufsstand der Bevölkerung. Grob betrachtet lässt es sich in zwei Stadtteile gliedern. Die Mehrheit der Einwohner – Händler, Arbeiter und Handwerker – lebt in den ärmeren Vierteln, die wie ein breiter Befestigungsring den winzigen feudalen Kern umschließt. Auf der Weißen Insel in der Mitte residieren die Adeligen, der Magistrat und Bürger von Stand. Vier gewölbte Steinbrücken über dem Hauptkanal, die von einem Ufer zum anderen hundertzwanzig Schritte messen, verbinden die beiden gegensätzlichen Welten miteinander. Eine Brücke für jede Himmelsrichtung. Ansonsten würde ich sagen: Komme einfach vorbei und sieh es dir an! Und vergiss dabei nicht, in meiner Schenke vorbeizuschauen. Bei mir gibt’s garantiert saubere Krüge, frisches Bier und Schmackhaftes nicht nur für den Bauch, sondern auch für die Seele. Und für ein nettes Schwätzchen ist auch immer Zeit, wie du siehst."
UzB: "Ich kann es mir bildlich vorstellen. Aber was meinst du mit dem Schwarzen Bootsmann und den Gesichtslosen?"
Llilian: "Ich kann nicht darüber sprechen. Das Thema geht mir einfach zu nah. Tut mir leid."
UzB: "Na komm, Llilian, erzähl! Wir sind doch unter uns."
Llilian: "Also gut … Vom Schwarzen Bootsmann heißt es, dass immer wenn er auf seiner Barke erscheint, er Krankheiten und Seuchen über die Menschen bringt. Lange Zeit hielt ich diese Geschichte für Seemannsgarn wie Meerjungfrauen oder Riesenkraken, die Schiffe verschlingen. Bis er eines Nachts leibhaftig vor mir stand. Der Schwarze Bootsmann ist die nette Umschreibung für Medaan’reth, der Seelenlose, wie er sich selbst nennt. Eine bösartige, von Schatten umgebene Kreatur, die von Hass zerfressen ist. Er brachte mir Verderben, Qualen und – man glaubt es kaum – auch Liebe. Mehr möchte und kann ich dazu nicht sagen. Es ist einfach zu schmerzhaft."
UzB: "Das klingt ... verwirrend und gefährlich. Nun gut. Und was hat es mit den Gesichtslosen auf sich? Gehören sie zu ihm?"
Llilian: "Nein. Er ist ein Einzelgänger und verabscheut die Gesichtslosen wie alles andere auch. Die Gesichtslosen sind Richter und Henker zugleich. Sie patrouillieren durch die Stadt und bestrafen jeden, der verbotene Magie betreibt. Und zwar direkt an Ort und Stelle. Ihre bevorzugte Waffe ist eine Axt. Sieh bloß zu, dass du keinem begegnest!"
UzB: "Das hört sich nach einem gefährlichen Leben in Tönngracht an."
Llilian: "Welche Stadt ist es nicht? Man muss nur ein wenig aufpassen, die Augen offen halten und nachts die Kanäle meiden. Ich liebe Tönngracht und könnte mir gar nicht vorstellen, woanders zu leben."
UzB: "Lass uns über deinen Vater sprechen. Du weißt gar nichts über ihn?"
Llilian: "Ich weiß nur, dass er zu den Vasi gehört. Wesen, die von vielen in Tönngracht als Götter verehrt werden. Ich persönlich halte ihn für einen Lump! Er hat meine Mutter noch in der Nacht meiner Zeugung sitzen gelassen. Sie wusste nicht einmal, wie er ausgesehen hat. Entweder hat er ihr Gedächtnis gelöscht oder sie gegen ihren Willen gefügig gemacht. So oder so kann er mir gestohlen bleiben!"
UzB: "Deine Einstellung kann ich voll und ganz nachvollziehen. Magst du uns etwas über deine Freunde erzählen?"
Llilian: "Aber gern. Da wäre meine beste und auch einzige Freundin, Alanis. Sie ist eine Seele von Mensch, aber jünger als ich und auch ein wenig naiv. Deshalb passe ich auf sie auf, als wäre sie meine kleine Schwester. Und dann ist da noch Meister Leonid, der im Hafenkontor arbeitet. Er hat mich unter seine Fittiche genommen, als ich nach Tönngracht kam und zugegebenermaßen noch ziemlich grün hinter den Ohren war. Ihm verdanke ich, dass ich es so weit gebracht habe. Und er hat mir Lesen und Schreiben beigebracht. Einen wichtigen Platz in meinem Leben nimmt natürlich Anton ein, mein Koch. Zwar gibt er sich gern grimmig, aber im Grunde genommen hat er ein gutes Herz, und er weiß, wo man die besten Pilze weit und breit findet. Ohne ihn wäre das Krähennest nicht das, was es ist."
UzB: "Eine letzte Frage habe ich noch an dich: Was ist mit Meduda?"
Llilian: "Bei Yantus Stab, woher weißt du von Medusa? Hach, ich vermisse das alte Mädchen! Ich kann nur sagen, dass sie die sanftesten Augen hat, die du dir vorstellen kannst, und dass sie mir in buchstäblich letzter Sekunde das Leben gerettet hat … Nun muss ich aber weitermachen. Heute Morgen hat ein Kriegsschiff aus Xelabrien im Hafen angelegt. Das bedeutet, dass jeden Moment ein Trupp aufgekratzter Marinesoldaten durch die Tür poltern könnte. Ich muss Anton in der Kochstube aushelfen. Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Wenn du magst, verweile doch noch ein wenig. Heute gibt es Kaninchenragout mit Kartoffeln. Sehr zu empfehlen!"
UzB: "Vielen Dank."